PALÄSTINA

Wo genau liegt es eigentlich? Seit meinem Schul-Religionsunterricht war und blieb mir unklar, was eigentlich Palästina war, was Israel, wo Kanaa lag und Judäa. Der Religionsunterricht verwendete keine Landkarten, der Geographieunterricht beschäftigte sich nicht mit Geschichte und der Geschichtsunterricht kaum mit Religionen. Und da mir alles Religiöse ohnehin so dunkel war, interessierte ich mich nicht sehr dafür.
Später, in der Zeit meiner besten Theaterengagements in Basel, einer Zeit, die ich als Dreiundzwanzigjährige sehr genoss, und die geprägt war von meinem Wunsch, mich als Schauspielerin zu perfektionieren, mich zu etablieren, Karriere zu machen und das Leben zu genießen, drang durch diese Art rauschhaften Lebens die Nachricht, dass Israel in Gefahr war, 1967. Israel, die noch junge Heimat der verfolgten Juden! Israel, das seine jüdischen Bewohner aus einer Wüste zu fruchtbarem Land gemacht haben. Selbstverständlich schloss ich mich der vom Theater organisierten Solidaritätsveranstaltung an. Aber ich kümmerte mich nicht weiter um die Art der Bedrohung.


Das Jüdische war mir schon in der Kindheit durch die Lektüre des Tagebuchs der Anne Frank und durch das Vertriebenenschicksal meiner halbjüdischen Halbschwester eine Herzensangelegenheit. Während Kindheit und Jugend bedrückten mich Holocaust und das Schicksal dieser ewig Vertriebenen; antisemitischen Sprüchen Wiener Studenten christlicher und nationaler Verbindungen trat ich entgegen, indem ich behauptete, ich selbst sei Jüdin. Damit beendete ich solche Redereien in meiner Anwesenheit.
Aber ich atmete auf, als ich wenige Jahre später, nachdem ich die Karriere mit dem Projekt einer freien, politischen Theaterarbeit getauscht hatte, im Rahmen marxistischer Schulung die Wurzel der beiden Weltkriege im kapitalistisch-imperialistischen Wirtschaftssystem zu erkennen lernte – und ich begriff, dass der Faschismus, einschließlich seiner industriellen Vernichtung jüdischer Menschen, die grauenhafte Spitze des Eisbergs ist, der insgesamt aufgelöst – am liebsten würde ich sagen – weggeschmolzen werden muss. Nicht mehr unerklärliche Grausamkeit, nicht mehr die Schlechtigkeit und Eiseskälte der Menschen sind schuld an Krieg und Holocaust – und heute ebenfalls nicht unerklärliche Blutrünstigkeit und Unmenschlichkeit. Es gibt wirtschaftliche, systembedingte und historische Gründe für die heutigen Kriege und Massaker.


Sowohl die jüdischen Menschen als auch die palästinensischen beklagen fehlende öffentliche Empathie für ihre Opfer. Aber, ob sie es wissen oder nicht, ich glaube, dass Millionen Menschen sehr wohl dieses Mitgefühl haben, dass es jedoch sehr schwer ist, das öffentlich zu bekunden, denn wir sind uns gleichzeitig unserer Hilflosigkeit, unserer Ohnmacht bewusst, und es erscheint mir unmöglich, Partei zu ergreifen, was aber in den Empathieforderungen beider Seiten mitschwingt. Darüber hinaus werden wir seit Jahrzehnten mit sich mehrenden Schreckensnachrichten über Krieg und Gräuel überflutet. Das Grauen und die Angst kommen uns langsam immer näher – und wir müssen sogar lernen, uns davon zu distanzieren, um unsere eigenen täglichen Aufgaben weiter wahrnehmen zu können. Als Kind konnte ich das nicht verstehen; wieso die Menschen sozusagen normal weiterleben konnten, während Krieg das Leben aller bedrohte. Aber ich lerne allmählich, dass das notwendig ist. Wirklich notwendig zum Lebenserhalt, aber auch notwendig, um den durch die großen Kriege und Massaker nebensächlich und vernachlässigenswert erscheinenden Kleinkriegen der Unternehmerschaft und ihrer politischen Vertreter gegen die arbeitende Bevölkerung und die Armen entgegentreten zu können. Genauso wie weiter gearbeitet werden muss, damit Lebensmittel, Kleider, Möbel usw. für die Menschen da sind, so muss auch weiter gegen Ausbeutung, Arbeitsunrecht und soziale Verschlechterungen weitergekämpft werden. Und das findet ja auch statt. Z. B. haben im Jahr 1917 (vorletztes Jahr des 1. Weltkriegs) in Köln die Arbeiterinnen der Textilbetriebe und die Metaller gestreikt! Und es auch gewagt, die Beendigung des Krieges zu verlangen! Auch heute wäre es ganz verkehrt, wenn diese uns im Verhältnis zu den großen Kriegen und Gräueln unbedeutend erscheinenden Ungerechtigkeiten nicht mehr bekämpft würden; wenn also dieses sozusagen normale Leben nicht weiter ginge.
Aber der jetzige Krieg, der auf palästinensischem Boden geführt wird, hat mich doch mehr als alles Bisherige erschüttert und hat meine Schreibarbeit über Arbeits- und Mieterkämpfe in den Hintergrund gedrückt. Das ist nicht gut, denn die sozialen Bedrohungen werden durch die Kriege ja größer: die Preissteigerungen, die Mieten, die Heizkosten, das Gas! Aber mit dem Gas sind wir doch schon wieder beim Krieg. Ich komme nicht los von dem Thema, und nicht von der Erschütterung über das, was dort geschieht. Ich brauche einen geistigen humanitären Korridor, um mich zu beruhigen.
Also habe ich mir gedacht, ich muss mehr wissen und schon kam mir die alte Frage in den Sinn: Wer sind eigentlich die Palästinenser. Sind es Araber? Dann hießen sie nicht Palästinenser. Und ich begab mich auf die Suche.

Das schöne große grüne Buch, leinengebunden, mit Goldschnittschrift PALÄSTINA aus dem Zambon-Verlag von 2011, sollte mir Auskunft geben. Keine leichte Sache: 25 cm breit, 32 cm lang, 2,7 cm dick und 3 kg schwer. Allein die Vorgeschichte bis zur Osmanischen Zeit dauerte 13 eng bedruckte Seiten. Und mein altersschwacher Verstand konnte sich die Reihenfolge all der Stämme, Städte, Reiche und Großreiche nicht merken. Hethiter, Mesopotamier, Assyrer, Babylonier, Ägypter, Perser, Araber, Griechen und Römer, Israeliten, Amoriten, Moabiter, Edoniter, Aramäer, Phönizier und Philister! Alle waren sie in der Region mal zu Hause; ob als Bauern, Viehzüchter, Nomaden, Handwerker, Krieger, Großgrundbesitzer, Pächter, Händler oder Herrscher.
Aber immerhin, eins hab ich mir merken können: durch die Einwanderung oder Eroberung der Philister um 1200 v. Ch. bekam das Land seinen Namen. Palästina heißt nämlich Land der Philister. Und ab da hieß eine Region, die ungefähr das heutige Israel, Gaza, Jordanien, Libanon, Syrien, Hochmesopotamien und die südöstlichen Zipfel Anatoliens umfasste Syrien-Palästina. Und da ich die Angaben meines großen Buchs mit Wikipedia abglich, habe ich erfahren, dass über die Herkunft dieser namensgebenden Philister sich die Archäologen streiten. Einig sind sie sich nur, dass es ein ägäisches Seevolk war, und dass sie an der Küste einen 5-Städtebund gründeten. Im übrigen gibt es Theorien, dass es Kreter, Spanier, Sarden, Griechen oder Kleinasiaten waren. Die neuesten DNA -Erkenntnisse hab ich vergessen, weil es nämlich wurst ist. – Denn schon 10.000 Jahre vorher gab es Besiedlungen. Die ältesten Funde der Stadt Jericho stammen von 9.000 vor Christus. Und schon 4.000 v. Ch. wurden dort Wein, Oliven, Feigen und Honig produziert. 3000 v. Ch. haben die dort lebenden Menschen schon befestigte Städte gebaut. Stadtstaaten hat es gegeben, Palastherrschaften, Stammesherrschaften und dann sind erst die Ägypter gekommen und haben das Land in Provinzen aufgeteilt. Das ist alles hoch interessant, z. B. wenn man auf der Suche nach gerechten Verfassungen ist, also wo es diesen vielen Völkern gleichzeitig am besten gegangen ist. Nicht alle Vielvölkerreiche waren despotisch. Manche dehnten ihre Grenzen gerade dadurch aus, dass sie durch friedlichen Handel, Pflege der Kultur, Zulassung sämtlicher Sprachen und Religionen die Gebiete einnehmen konnten.

Ich überspringe jetzt die Jahrtausende, in denen nach den Ägyptern und Philistern die Assyrer, die Perser, die Hellenen durch Alexander d. Großen, die Juden, die Römer und die Christen der Region ihre Stempel aufdrückten und möchte einen kleinen Originaltext eines arabischen Geographen aus dem 10. Jahrhundert nach Christus, der in meinem großen grünen Buch stand, zitieren:
„Die westlichste Provinz Syriens, Palästina, wird vom Regen benetzt und vom Tau, und daher brauchen seine Bäume und seine Erde keine künstliche Bewässerung…Palästina ist die fruchtbarste Provinz Syriens…“ Angebaut werden: Pinien, Zitrusbäume, Trauben, Feigenbäume, Johannisbrotbäume, Sesam, Zuckerrohr, Dattelpalmen, zahlreiche Obst- und Gemüsesorten, Spargel, Mandelbäume, Kohl, Bananenstauden und Artischocken. Der Anbau von Orangenbäumen, die die Araber aus Indien eingeführt haben, brachte hervorragende Ergebnisse. Indigo wird gewonnen. Wolle und Baumwolle werden verarbeitet. Das bedeutendste Produkt aber ist der Olivenbaum. Öl und Seife werden auf die Märkte von Damaskus und Ägypten verteilt.
Und sieben Jahrhunderte später, im 17. Jhdt., als sich die Region bereits unter osmanischer Herrschaft befindet, beschreibt der englische Dichter George Sandys Palästina als das Land, in dem Milch und Honig fließen, im Zentrum der bewohnten Welt, mit einem gemäßigten Klima, umgeben von wunderschönen Bergen und üppigen Tälern. Klares Quellwasser. Kein Winkel ohne Reiz oder wird nicht umsorgt.

Das ist kein Land, das zivilisiert werden musste, wie es gegen Mitte des 19. Jahrhunderts von den herrschenden Klassen vor allem Englands, aber auch Deutschlands, Frankreichs und Österreichs gesehen wurde. Das war auch kein „Land ohne Leute für Leute ohne Land“, wie ein Slogan der entstehenden zionistischen Bewegung lautete.
Diese Sichtweisen und diese hoch bezahlten Forschungsreisen, die das Vorhandensein einer einheimischen Bevölkerung ignorierten oder sie als zu befreiende Sklaven eines Despotenstaates betrachteten, dienten den aufkommenden imperialistischen Interessen. Und die Schwächung des osmanischen Reichs, Griechenland hatte sich z. B. teilweise bereits befreit, übrigens unter nie zu tilgender Verschuldung bei England und Frankreich, nutzen die westlichen Großmächte, um ihre geopolitischen strategischen und wirtschaftlichen Interessen zu etablieren.

Die zionistische Bewegung, die Idee von einem Staat der Juden, wurde sowohl von England als auch von Frankreich positiv aufgenommen. Während sie von 1830 an in ganz Nordafrika und Ägypten militärisch einfielen und weite Gebiete besetzten, sahen sie in der Errichtung eines Pufferstaates zwischen der Türkei und Ägypten durch massenhaft angesiedelte Juden eine Möglichkeit der weiteren Schwächung des osmanischen Reichs. Ein dafür eingerichteter Fonds von 1 Million Pfund Sterling wurde allerdings vorerst doch für Militärausgaben verwendet.
Dennoch nimmt die jüdische Besiedlung Fahrt auf. Und es kommt bereits im 19. Jahrhundert zu vielen Konflikten zwischen Siedlern und den einheimischen Bauern und Viehzüchtern. Die Klagen und besorgten Briefe der Palästinenser und Ägypter an englische und französische Stellen werden ignoriert. Das Staatgründungsvorhaben russisch-jüdischer Studenten wird von dem Pariser Bankier Rothschild mit 1 Million 600 Pfund Sterling unterstützt. Theodor Herzl, der Verfasser des Buchs „Der Judenstaat“, bietet der osmanischen Regierung in Istanbul an, Palästina zu kaufen. Er schreibt „…Wir würden dafür sorgen, die Finanzen der Türkei völlig in Ordnung zu bringen. Für Europa würden wir dort unten ein Stück der Bastion gegen Asien errichten. Wir wären der vorgerückte Wachposten der Zivilisation gegen die Barbarei…“

Diese angebliche Barbarei sah aber so aus. 1905 lieferte Palästina Gerste höchster Qualität und Preise nach England für deren Bierbrauereien. Es werden weicher und harter Weizen aus Transjordanien, Orangen und Orangenblütenhonig aus Jaffa, Öl und Seife aus Nablus, Trauben aus Hebron und Balsam aus Jericho exportiert. Waren im Wert von 3 Millionen französischen Franken gehen nach Europa.
Die Balkankriege 1912/13 schwächten das osmanische Reich weiter, das in der Folge weitere Teile Griechenlands verlor, Serbien, Mazedonien, Albanien, Bosnien, Bulgarien und Rumänien als Einnahmequelle und Soldatenrekrutierungsgebiete.
Der 1. Weltkrieg führte schließlich zur Neuaufteilung des Nahen Ostens. Und bereits während des Kriegs verfasste der britische Außenminister Balfour eine Deklaration zur Annexion Palästinas, die es in der Folge drei bis vier Millionen mittelloser Juden aus Osteuropa ermöglichen sollte einzuwandern. Zu diesem Zeitpunkt lebten 750.000 Palästinenser und 50.000 Juden im Land. Die Deklaration hatte allerdings keine rechtliche Wirkung, da Palästina zu diesem Zeitpunkt immer noch zum osmanischen Reich gehörte.

Okt. 1918 marschieren englische Garnisonsgruppen im südlichen Palästina ein. Und die sogenannte „Balfour-Deklaration“ ging in das berühmte geheime Sykes-Picot-Abkommen ein, das England und Frankreich miteinander schlossen. Zu den Friedensverhandlungen mit dem Vertrag von Versailles 1919 wurde eine palästinensische Delegation nicht zugelassen. Die englische Besatzungsmacht verweigerte und verhinderte deren Ausreise. Allerdings bestimmte dann erst ein „Völkerbundsmandat für Palästina“ 1920, welche Gebiete unter britisches Mandat fielen. Die muslimisch-christlichen Verbände, die sich damals bildeten, sowie die gesamte palästinensische Bevölkerung protestierten gegen die geplanten Landaufteilungen und verlangten, dass Syrien und Palästina als ein autonomes Land anerkannt würden. Die Forderungen wurden mit der französischen Besetzung Syriens beantwortet. Wegen weiterer Uneinigkeiten über Ausdehnung und Grenzen des englischen Mandats wurde dies letztlich erst 1922 genau definiert und ratifiziert. England erhielt das Mandat über den Irak und Palästina.
Es umfasste bezüglich Palästina genau das Gebiet, aus welchem der spätere Staat Israel hervorging, zu dem nicht der Gazastreifen, das Westjordanland, Teile der Golanhöhen sowie das spätere Königreich Jordanien gehören sollten. Auch die zukünftige Schaffung eines Staates Palästina war in dem Mandat vorgesehen.
Die Verpflichtungen Englands bestanden u. a. in der Hilfe zur Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina unter der Bedingung, dass die bürgerlichen und religiösen Rechte nichtjüdischer Gemeinden gewahrt blieben. Die Zurverfügungstellung von Staats- und Brachland, Erleichterung der Einwanderung, Erwerb der palästinensischen Staatsbürgerschaft durch Juden.
Zu diesem Zeitpunkt lebten dort 590.000 Muslime, 83.794 Juden, 73.024 Christen und 7.028 Drusen.

Aus meinen bisherigen, beschränkten Studien bin ich zu der Auffassung gekommen, dass es dort nicht zu etwas wird kommen können, was man einen gerechten Frieden nennt. Nur eine Annäherung ist möglich. Aber, wenn ich meine Erfahrungen und die Ereignisse während meines nun schon langen Lebens betrachte, ist das auch das Einzige, was in sozialen Kämpfen erreicht werden kann. Und das betrachte ich als unsere Aufgabe: Zustände herzustellen, so nah wie möglich an der Gerechtigkeit.

(Okt./Nov. 2023)


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