AQUÄDUKTGASSE IN LIESING

Wieder wandte ich mich wienwärts,
wo weiches Sonnenlicht Weinberg
und Wald durchwärmte.
Winter war’s noch, doch schon schmolz
der Schnee und auf den Wegen
ging alles dem Frühling entgegen.

Die Untere Aquäduktgasse verläuft eben, die Obere hügelaufwärts. Der Aquädukt kommt aus dem Hügel heraus, überquert das Liesingtal und wächst bei Mauer in einen anderen Hügel hinein.

Als Kind waren diese Hügel Berge für mich und der Aquädukt eine riesenhafte Architektur. Der Liesing entlang erstreckten sich die geziegelten Gebäude der Brauerei, als wenn sie mit dem ebenfalls geziegelten Aquädukt verwandt wären – so wie auch die geziegelten Werkswohnungshäuser der Brauerei auf der anderen Seite der Liesing; diese nur über eine schmale Holzbrücke zu erreichen, über die zu gehen ich als Kind immer Angst hatte. – In diesen Häusern wohnten die Russen. Gefährliche Menschen hinter erleuchteten Fenstern, nie zu sehen in meiner Erinnerung, aber anwesend als Gefahrenzone, die zu betreten uns verboten war.

Gegenüber den Russenhäusern lebten meine unheimlichen Verwandten. Heimliche gab es auch, aber von denen wurde nie gesprochen, abgesehen von der Oma, die in einem Heim lebte, dessen Unheimlichkeit mich heute noch in Albträumen verfolgt. Die endlosen Flure verwandeln sich darin zu denen der KZ’s und die Türen zu den Zimmern der Alten in die zu den Gaskammern. Auch das Heim war ziegelig, rotziegelig, gebaut. Und das vor allem begründete meine tiefe Abneigung gegen rote Ziegelbauten (das berühmte Wiener Arsenal habe ich deshalb nie betreten und ist mir selbst von Ferne ein Graus, die Fabriken aus dem 19. Jhdt. halte ich nur als Ruinen aus). Es ist also ein unerwartetes wahres Wunder, dass ich heute den Anblick des ziegelig über die Liesing gebauten Aquädukts genieße. Das kommt aber daher, dass ich in der Zwischenzeit längst die echten, römischen Aquädukte gesehen habe. Und im griechischen Hafenstädtchen Kavala jenen zauberhaft eleganten, höheren und schöneren als unseren Liesinger Aquädukt. Ja natürlich: das sonnengebleichte Rot, die pittoreske Landschaft und das blaue Meer, das durch die Bögen glitzert… Kein Zweifel. Viel schöner: Aber das ist das Interessante: Dass die dortige Schönheit, also sozusagen das Ideal eines Aquädukts mir heute durch unseren durchscheint; der plumpere Bau in der weniger sensationellen Landschaft durch Erinnerung an das Ideal an Schönheit gewinnt.

Überhaupt spielt das Erinnern heute eine Rolle, die es in der Kindheit noch nicht gab.

Der Weg auf der Oberen Aquäduktgasse, hügelan und der Sonne entgegen, erinnert mich daran, dass wir hier als Kinder (drei Cousinen und mir fremde, wilde Buben) wenn Schnee lag, hinunterrodelten. Das Rodeln selbst ein kurzes Vergnügen im Vergleich zum anstrengenden Hinaufstapfen und Rodelziehen, sodass die Schussfahrt abwärts gar nicht so toll in Erinnerung blieb – Vielmehr ist es das ganze Wintererlebnisensemble da bei meinen unheimlichen Verwandten, bei denen wir nur zu Besuch waren mit mir, dem schwächsten Teil unserer Vater-Mutter-Kind-Stadtwohnungs-Kleinstfamilie.

Wenn’s dunkel wurde und immer kälter, zogen wir mit unseren Schlitten wieder heimwärts zu den besuchten Verwandten. Aber direkt am Eck, wo wir einbogen in die Elisenstraße, stand schon das Haus weiterer Verwandter. Angeheirateter für mich, aber nächster für meine Cousine. Und die wollte da immer rein. Das Haus war mit grauen Schindeln verkleidet und im Erdgeschoss lag die Greisslerei , also die Lebensmittelhandlung, der Laden der Großtante meiner Cousine. Der war natürlich am Sonntag, wenn wir rodeln waren, geschlossen. Durch den Hausflur neben der Greisslerei, nach hinten zu kam man in die kleine, feucht-kalte Wohnung der Großtante. Und dort saß man dann mit den schneenassen Schuhen und in den schneefeuchten Hosen herum, die tropfenden Anoraks hingen an der Tür – und aus irgendwelchen Gründen war es toll, dort zu sein. Vielleicht gerade deswegen, weil dort, in diesen Erdgeschossräumen hinter der Greisslerei, die Natur, die äußere und auch unsere eigene nicht ganz so gebändigt war wie überall sonst, und erst recht bei mir zu Hause, in der feinen Stadtwohnung. Hinter der Greisslerei strahlte der Gasheizer zwar Hitze aus, in nächster Nähe, aber am Boden bildeten sich Lacken unter den Schneestiefeln.

Irgendjemand trank Schnaps. Wahrscheinlich der Onkel. Der Schwiegersohn der Großtante, der Kriminaler, über den noch zu sprechen wäre. Meine Cousine konnte nie länger still sitzen, am liebsten wäre sie vielleicht noch ins Kino gegangen, und die Cousine meiner Cousine, die Tochter vom Onkel, war jünger als ich. – Eigentlich sollten wir längst drüben sein, zum Abendessen, bei der Oma und den eigentlichen Verwandten, wo wir seit Samstag zu Besuch waren. Ich wusste ja, dass wir zurück nach Wien, also in die Stadt mussten, einen weiten, langweiligen Weg, erst zu Fuß, dann mit der Straßenbahn, dann mit der Stadtbahn-Bahn (der heutigen U 4), und nochmals zu Fuß – Aber wir klebten am Sofa fest, wir drei Mädchen. Oder waren wir schon einen Stock höher gestiegen und besichtigten das neue, eigene Zimmer unserer kleinen Cousine? –

Da klopft es an der Tür. Die ersten Abgesandten meiner Verwandten kommen, um uns zu holen. Aber der Onkel ist schon lustig vom Schnaps und verwickelt meine Tante, die seine Schwester ist und ihn liebt, oder meine Mutter, die kein Kind von Traurigkeit war, in ein lautes Scherzgespräch, und schon sitzen sie beim nächsten Schnapserl mit an seinem Tisch.
Mir wird unheimlich, indem es nebenan immer lauter und lustiger wird – und wir doch eigentlich rübergehen sollten.

Da klopft es wieder und die zweiten Abgesandten stecken ihre Köpfe herein. Wo wir denn blieben? Meine Eltern müssten nun wirklich aufbrechen. „Jojo! De kumman scho! Kumm eina. I muaß da wos dazöhn“ „Jo, owa nua kuazz – waaßt eh..“ Und der oder die zweite Abgesandte trank auch noch ein Schnapserl und die Gespräche wurden noch lauter und das Gelächter klang schon höllisch, als schließlich und zuletzt eine oder ein Letzter der Drüberen verärgert erschien und uns alle aufstamperte.

Drüben hatte mein Vater in der Zwischenzeit noch mehr Schnapserln getrunken als der Onkel hier und befand sich in einem unheimlich aufgelockerten Zustand, den ich hasste. Meine Mutter hatte sich nur ungern vom Onkel getrennt. Aber was sein musste, musste eben sein: Wieder in allen dicken Pullovern, Anoraks, Mänteln, Stiefeln, Mützen und Hüten stapften wir nun in tiefer Finsternis der Straßenbahn zu und rollten schließlich heimwärts in die Stadt.

An der Unteren und Oberen Aquäduktgasse aber stehen nur mehr vereinzelte solcher ärmerer Einfamilienhäuser. Eins davon, mit abblätterndem gelben Putz, schaut mit einer Front nach Süden, hin zu dem Hügel, wo wir als Kinder rodelten, und hinter dem die Weingärten beginnen. Und zwischen dieser besonnten Fensterfront und dem nächsten Haus haben sich die Bewohner einen alten Holztisch, Bank und Gartenstühle hergerichtet; unaufdringlich und ausgebleicht steht jetzt das Zeug in der Sonne und erinnert an die alten Zeiten vor Einkaufszentrum und Luxuswohnhäusern entlang der Liesing.


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